Schlupfwinkel statt Knast,                                         Buch und Regie ESD: 5. März 2008 MDR

Film

Rezension

Rezension 

Aus der „Magdeburger Volksstimme“ 

vom 1. März 2008

Mit dem Morgengrauen schlürft Sebastian zum Kuhstall. Seine zwei Bullen haben wieder alles vollgeschissen, und er muss jetzt den ganzen Mist raus kratzen. Ein ScheißJob, den er nicht ganz freiwillig erledigt. Wäre er nicht hier in den rumänischen Karpaten, würde der 15-jährige Serieneinbrecher aus Ribnitz-Damgarten jetzt in einem deutschen Jugendarrest eine seiner vielen Strafen absitzen.   

In der Reportage „Schlupfwinkel statt Knast“, die im Mitteldeutschen Rundfunk am 5. März ausgestrahlt wird, werden vier Jugendliche und ihre Betreuer, das Ehepaar Babett und Bert Schumann, begleitet. Jungs wie Sebastian haben mehrfach Straftaten begangen und zahlreiche erzieherische Angebote der Jugendhilfe abgebrochen. Rumänien ist ihre letzte Chance. Eine, die sie kaum abbrechen können, denn außer den Bergen der Karpaten gibt es weit und breit nichts, wo sie hin könnten. In Deutschland haben nicht alle Verständnis für die unzähligen Hilfsangebote, die Kriminellen immer wieder gemacht werden. Die aus Dessau nach Rumänien ausgewanderten Schumanns müssen sich oft anhören, dass mit der Jugend härter umgegangen werden sollte und ihre „Streichelpädagogik“ verboten werden müsste. Auch die Jugendlichen denken an Ferienlager, wenn sie sich für Rumänien statt Knast entscheiden.

Babett Schumann, Psychotherapeutin erklärt im Film: „Die meisten wissen nicht, was auf sie zukommt. Sie denken, das ist ein bisschen Larifari, Kuraufenthalt, ein bisschen Schäfchen streicheln, ein bisschen Streichel-Zoo und bisschen Erlebnispädagogik. Da denken die meisten, wir haben da ein Seil am Baum und klettern da ein bisschen rum und machen da ein bisschen Biwak im Wald. Und sind dann nach ein oder zwei Wochen ziemlich erstaunt, das es doch ganz anders läuft. Und wollen dann natürlich sofort zurück.“

Die Reportage zeigt, wie die 15-jährigen sich körperlich abquälen. Und doch verdeutlicht der Film von Claudia Schön eindrucksvoll, dass das Camp kein Arbeitslager ist. Es geht um mehr. Jeder hat hier Verantwortung, Tag und Nacht -- vor allem für die Tiere. Der Winter in den Karpaten kann 20 Grad und kälter sein. Nachts schleichen Wölfe um die Holzställe. Wer das Stalltor nicht richtig zu macht, wird am Morgen für den angerichteten Schaden Rede und Antwort stehen müssen. Und die Kamera schaut nicht weg, wenn es quälend eng wird im Raum, wenn die Erzieher sich mit den Ansichten des Neonazis Stefan aus Saßnitz auseinandersetzen. Der sich sagen lassen muss, ein „Schisser“ zu sein, der Russen hast, obwohl er gar keinen kennt.

Die Reportage gewinnt vor allem, weil sie die Jugendlichen nicht vorführt, sondern zeigt, wie sie momentan denken und wie sie sich abmühen, mit dem anderen, ihnen fremden Leben. Sie tauchen nicht platt als gute oder böse Jungs auf, sondern als Heranwachsende, die die Chance haben, ihren Lebenslauf noch einmal zu korrigieren. 

„Möglich“, so die Autorin Claudia Schön, „war das nur, weil wir uns überall frei bewegen konnten. Normalerweise werden wir Journalisten bei vergleichbaren Themen sehr kontrolliert. Oft sitzt uns ein Lehrer oder Pressesprecher des Jugendamtes im Nacken. In Rumänien haben die Schumanns, obwohl es um ihr Lebenswerk geht, uns völlig freie Hand gelassen. Und vielleicht ist es uns deshalb auch gelungen, an die Jungs heranzukommen.“

Das Fernseh-Team war für fünf Tage in die Berge gereist, hat bei den Jugendlichen auch geschlafen. Und genau zwischen den Tagen gelang es dem Kameramann, Benedikt Fitzke, Bilder einzufangen, die im alltäglichen Fernsehgeschäft fehlen und so der Reportage eine eigene Note geben. Da kniet der immer von Mama wohl behütete Sebastian auf den Badfliesen und muss seine Wäsche selber waschen. Und die ist wirklich dreckig -- vom Kuhmist.    

Ein Mädchen fehlt im Film. Kristina aus Dippoldiswalde. „Sie wollte nicht wirklich interviewt werden. Wir haben das respektiert. Schließlich ist so eine Reportage eine gemeinsame Produktion“, erklärt die 39-jährige Autorin.  

Der Aufenthalt in Rumänien dauert für die Jungs in der Regel um die zwei Jahre. Erst dann sind sie in ihrer Persönlichkeit so gefestigt, dass die Gefahr eines Rückfalls sehr gering ist. Sie erlernen ein einfaches Leben -- ohne Cornflakes, ohne Fernseher oder Gameboy. Einmal in der Woche dürfen die Jungs für fünf Minuten ihre Eltern anrufen. Das reicht auch. Denn ihre Ansprechpartner für Probleme aller Art sind die Schumanns.

Seit 2002 führen tun auch sie sich den eher kargen Alltag in den Bergen jenseits der Zivilisation an. Es gibt weder Heizung, Waschmaschine noch Geschirrspüler. Der Strom aus dem Tal reicht nur für ein paar Glühbirnen. Die Jungs sollen sich auf das konzentrieren, was wirklich das Leben ausmacht -- die Gemeinschaft. Bert Schumann, Sozialpädagoge, hat Erfolg. Bis heute, ist keiner seiner einstigen Jugendlichen straffällig geworden. „Mein Anspruch hat sich in sechs Jahren verändert. Mein Ziel heißt jetzt: Sie werden nicht wieder kriminell auffällig oder psychiatrisch auffällig. Das ist das Ziel: Sie sind so stabil, dass sie keine Lust mehr haben kriminell tätig zu werden und mit irgendeiner Bande, oder rechtsradikalen Gruppen zu assimilieren, sondern sie wissen, das sie was können, was leisten können und das auch wollen. Dann werden sie entlassen.“

In Deutschland werden die Schumannschen Kinder aufgefangen. Sie werden je nach ihren Fähigkeiten an Ausbildungseinrichtungen vermittelt und erhalten Familienanschluss, damit sie sich in Ruhe und nicht allein auf die deutschen Verhältnisse einstellen können. Finanziert wird diese rund-um-Betreuung über die Jugendämter. Auch Schumanns Honorar. Sie haben sich mit ihrem Schlupfwinkel selbständig gemacht und wollen noch zehn Jahre in Rumänien bleiben. Sie wissen, auch für Sozialpädagogen gibt es ein Alter, wo sie nicht mehr mithalten können, wo der Körper sich gegen das harte Leben auf dem Land wehrt. Das das Modell nicht für die große Masse an auffälligen Jugendlichen taugt, ist der einzige Nachteil.