Die Erzählerin tastet sich an jahrzehntelang verdrängte Erinnerungen heran: Da ist ein Badeunfall, die unerklärlich lange Abwesenheit der Mutter, der Vater, der sich in seiner knappen Freizeit in den Bau eines Bungalows flüchtet, der erfolgreiche, große Pionier-Bruder, die Chance, mit Freunden über die Grenze in den Westen zu fliehen.
Ein vielschichtiges, dichtes Porträt einer Familie, in der alle das drohende Unheil spüren und dennoch schweigen. Ein berührender Roman über die Kraft der Geschwisterliebe, erzählt mit feinsinniger Ironie.
Ludwig Verlag Kiel
ISBN 978-3-86935-445-3
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Titelbild: Olesha Frolova_stock.adobe.com
Ich stehe an diesem Wintermorgen auf, nehme die Gedanken an unsere Kindheit die Treppe mit hinunter, schleiche mich in die Küche. Da liegt es noch auf dem Tisch – das Tagebuch meines Bruders. Die Seiten stehen voneinander ab, als würde das Buch das Maul aufreißen und jede einzelne Erinnerung ausspucken wollen. Er hat die weißen unbeschriebenen Seiten mit Fahrscheinen, Tapetenmustern, Zeitungsausschnitten beklebt und alles akribisch beschriftet. Es hat einen festen Einband, sollte ja für die Ewigkeit halten. Ich koche mir einen Kaffee und setze mich an den Küchentisch.
Tag und Nacht stand dieser Posten keine dreißig Meter vom Sandkasten entfernt, immer bewaffnet, manchmal sogar mit einem Maschinengewehr zwischen den Händen. Zum Fürchten sei das, meinte meine Mutter und zog die Gardinen vors Fenster. Der Friede müsse bewaffnet sein, erklärte mir mein Vater. Es sei gut, dass es ihn gibt. Und ich nickte einsichtig. Schließlich lebten wir in der Hauptstadt der DDR mit dem kleinen Westberlin darin. Das war nun wirklich eine gefährliche Gegend. Das wusste jeder auf dem Hof.
Als Kind hatte ich keine Angst vor dem Polizisten, im Gegenteil. Ich fühlte mich sicher, wusste, wenn sich jemand ein Knie aufschlug und keine Mutter da sein würde, dann hätte ich bei dem Polizisten in Uniform um Hilfe bitten können. Er trug ja ein Funkgerät und konnte Verstärkung für uns anfordern.